Berliner Morgenpost: Stereotype aufbrechen

Die Berliner Morgenpost über die Ausstellung „L´Chaim – Auf das Leben! Die Vielfalt jüdischen Lebens in Berlin entdecken“, kuratiert von Joachim Seinfeld und mir.

„Die Geschichte Berlins ist eng verwoben mit der Geschichte jüdischen Lebens. Nicht nur weil zahlreiche jüdische Persönlichkeiten wie Rahel Varnhagen, Henriette Herz, Max Liebermann, Alfred Kerr oder Max Reinhardt die Entwicklung der Stadt maßgeblich beeinflusst haben. Berlin war aber auch der Ort der Wannsee-Konferenz im Jahr 1942 und ein logistisches Zentrum für die Organisation der nationalsozialistischen Verbrechen am jüdischen Volk. Verschiedene symbolische Orte und Gedächtnisräume Berlins bewahren heute die Erinnerung daran.

Nach 1945 konnte sich das durch den Nationalsozialismus weitgehend zerstörte jüdische Berliner Leben zunächst nur langsam wieder aufbauen. Wie reichhaltig und heterogen es sich gegenwärtig in der Hauptstadt entfaltet, zeigt die Ausstellung „L´Chaim – Auf das Leben! Die Vielfalt jüdischen Lebens in Berlin entdecken“, initiiert von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA). Konkret gibt die von Joachim Seinfeld und Lukas Welz kuratierte Ausstellung Einblick in Lebenswelten von Berliner Juden.

Zu den 35 Personen, die dafür porträtiert wurden, gehören etwa ein orthodoxer Rabbiner, eine Puppenspielerin, ein Holocaustüberlebender, der sich aktiv für Geflüchtete einsetzt, eine Kämpferin für das multikulturelle Umfeld Neuköllns und eine ehemals kommunistische Jüdin aus der DDR. Ihre Gedanken- und Gefühlswelten sowie die Tatsache, dass es nicht „ein“ jüdisches Leben gibt, seien die Grundlagen des Ausstellungskonzepts, erklärt Seinfeld. „Vor allem der Alltag soll eine Rolle spielen. Denn das Leben von Jüdinnen und Juden findet nicht abseits statt, sondern ist Teil einer – wenn auch oft fragilen – gegenwärtigen Realität.“

Den Mittelpunkt der Ausstellung bilden Filme, die auf Interviews mit den Protagonistinnen und Protagonisten basieren. Sie umkreisen Themen wie Familie, Migration und Heimat. Daneben gibt es einführende Texte, ein Glossar mit Begriffserklärungen und eine Karte mit den erwähnten Orten.

Die Ausstellung zielt darauf, Ressentiments und Vorurteile abzubauen. „Generell kann man sagen, dass sich das Wissen um jüdisches Leben in weiten Teilen der Bevölkerung leider auf wenige stereotype Bilder beschränkt. Die wollen wir aufbrechen“, sagt Seinfeld. Um ein möglichst großes und junges Publikum zu erreichen, das bislang keine oder nur wenige reale Berührungspunkte mit der jüdischen Kultur Berlins hatte, ist die Ausstellung in deutscher, englischer und arabischer Sprache gestaltet. „Gerade Menschen, die aus dem Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika nach Deutschland geflüchtet sind“, so Welz, „wuchsen in Gesellschaften auf, die ein negatives Bild von Juden vermittelten.“

Vor diesem Hintergrund lade „L’Chaim“ besonders dazu ein, mögliche Gemeinsamkeiten zu entdecken, etwa im Hinblick auf die Erfahrungen der Migration. „Im Vordergrund steht dabei, wie man in seiner Individualität anerkannt wird. In welcher Sprache habe ich die Welt kennen gelernt? Welche Erfahrungen mache ich als Angehöriger einer Minderheit in der Dominanzgesellschaft? Warum engagiere ich mich für etwas besonders? Das sind Fragen, die Anknüpfungspunkte für junge Menschen bieten, die sich selbst Gedanken über ihre Zukunft machen“, betont Welz. „Besonders aber bietet die Ausstellung die Chance, in einen Austausch darüber zu gelangen, wie sich eine von Vielfalt geprägte Gesellschaft gestalten lässt, welche Gemeinsamkeiten es gibt und wo Unterschiede nicht als Trennendes, sondern als Bereicherung gelebt werden können.“